Chronische Schmerzen homöopathisch begleiten

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Wie Glück oder Freude ist auch der Schmerz fester Bestandteil unseres Lebens. Chronische Schmerzen sind allerdings schwer zu ertragen, sie machen uns hilflos und ohnmächtig. Die Homöopathie kann hier unterstützend eingesetzt werden.
Wie Glück oder Freude ist auch der Schmerz fester Bestandteil unseres Lebens. Chronische Schmerzen sind allerdings schwer zu ertragen, sie machen uns hilflos und ohnmächtig. Die Homöopathie kann hier unterstützend eingesetzt werden.

Wenn der Schmerz ein Eigenleben führt

Allein in Deutschland leiden mindestens acht Millionen Menschen, das sind rund zehn Prozent der deutschen Bevölkerung, an chronischen, schwer therapierbaren Schmerzen. Diese beeinträchtigen den Alltag der Betroffenen mitunter massiv und wirken sich in vielen Fällen negativ auf Lebensqualität und Lebensfreude aus. Von schulmedizinischer Seite haben chronische Schmerzpatienten außer mehr oder weniger nebenwirkungsreichen Medikamenten oft wenig zu erwarten. Alternative Heilverfahren können die Schmerzen zwar auch nicht immer gänzlich aus der Welt schaffen, aber sie tragen dazu bei, das Leben der Schmerzgeplagten um Einiges erträglicher und positiver zu gestalten. Mitunter gelingt es sogar, die Schmerzen deutlich zu lindern oder gar komplett überflüssig zu machen.

Schmerz ist keine objektive Größe, sein Erleben ist subjektiv und höchst individuell. Jeder Mensch erlebt Schmerzen auf einzigartige Weise. Die persönliche Schmerzwahrnehmung und –toleranz hängt von zahlreichen Faktoren ab, die untrennbar mit der eigenen Lebensgeschichte verwoben sind. Insofern bietet sich die Klassische Homöopathie zur Linderung chronischer Schmerzen wie keine andere Heilweise an: Sie ist individuell und berücksichtigt den Menschen in seiner Komplexität. Physische und psychische Symptome fließen gleichermaßen in die Verordnung des entsprechenden homöopathischen Arzneimittels ein. Der Königsweg bei der Behandlung chronischer Schmerzpatienten ist in meinen Augen die Verbindung der Klassischen Homöopathie Samuel Hahnemanns mit dem Ansatz der Empfindungsmethode, wie sie der indische Arzt und Homöopath Dr. Rajan Sankaran vor rund 25 Jahren entwickelt hat. Mittlerweile verfügt die Klassische Homöopathie über rund 3000 verschiedene Mittel aus unterschiedlichen Naturreichen (Mineral-, Pflanzen- und Tierreich), es ist also möglich, sehr differenziert und individuell zu verschreiben. Aber auch andere Verfahren aus dem Bereich der Komplementärmedizin können dazu beitragen, chronische Schmerzen zu lindern.

Als chronisch gilt ein Schmerz, wenn er länger als sechs Monate anhält oder periodisch an mehr als 15 Tagen pro Monat auftritt. Chronische Schmerzen haben sich verselbstständigt, sind losgelöst von der ursprünglichen Erkrankung oder Verletzung. Sie haben ihre Schutzwirkung zumindest im körperlichen Bereich verloren. Die Folge nicht oder nicht ausreichend therapierter Schmerzen ist häufig das Schmerzgedächtnis.

Ein paar Sätze zur Schmerzphysiologie

Schmerzen sind die physiologische Reaktion des Körpers auf alles, was vom Gehirn als potenzielle Bedrohung eingestuft wird. Selbst heftigste chronische Schmerzen bestehen nur deshalb, weil das Gehirn aus irgendwelchen, oft nicht nachvollziehbaren Gründen beschlossen hat, dass der Organismus akut gefährdet ist. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn das Gehirn entschieden hat, dass keine akute Gefahr vorliegt, dann entstehen auch keine Schmerzen. Letztlich ist das Gehirn der wahre Urheber jeglicher Schmerzempfindung. Und selten ist der Ort der Schmerzwahrnehmung auch tatsächlich der Auslöser vor allem chronischer Schmerzen. Man weiß heute, dass sie zentralnervösen Ursprungs sind. Interessant ist auch, dass bei der Wahrnehmung und Verarbeitung sowohl körperlicher als auch seelischer Schmerzen dieselben Hirnareale aktiv sind, das haben bildgebende Verfahren eindeutig belegt. Dabei ist es bislang unklar, von welchen Faktoren es abhängt, ob ein Schmerz körperlich oder seelisch erlebt wird. (1) Meist sind beide Wahrnehmungsebenen miteinander verzahnt und so gibt es in der Regel weder einen rein körperlichen noch einen rein seelischen Schmerz.

Als wie stark Schmerzen empfunden werden, ist nicht abhängig vom Schweregrad der Gewebeschädigung, oft liegt sogar überhaupt keine nachweisbare Verletzung vor. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist der Phantomschmerz, bei dem ein nicht mehr vorhandener Körperteil als schmerzhaft empfunden wird. Oft klagen Patienten über anhaltende Schmerzen, obwohl die Verletzung oder Entzündung längst abgeklungen ist: Der Schmerz hat sich verselbstständigt.

So entstehen Schmerzen

Überall im Körper, in der Zellmembran der Neuronen, befinden sich Sensoren, die auf bestimmte Reize (chemisch, mechanisch, thermisch) spezialisiert sind. Reagieren die Sensoren auf einen Reiz, öffnen sie sich, sodass positiv geladene Teilchen (Ionen) von außen in die Neuronen einströmen können. Dadurch wird ein elektrischer Impuls ausgelöst. Die meisten Sensoren befinden sich im Gehirn, welches als Kommandozentrale fungiert. Sie werden vor allem durch chemische Botenstoffe aktiviert. Glücklicherweise haben Sensoren eine kurze Lebensdauer von nur wenigen Tagen und werden laufend durch neue ersetzt. Das bedeutet, dass sich auch die Empfindlichkeit für bestimmte Reize ständig verändert, was gerade bei chronischen Schmerzen wichtig ist: Das Maß der Schmerzempfindlichkeit ist nicht von Dauer, es kann sich wandeln.

Die Mischung der verschiedenen Sensoren im Organismus ist in der Regel relativ ausgeglichen. Sollte das Gehirn aber entscheiden, dass beispielsweise eine erhöhte Stressempfindlichkeit gerade das Beste für die Sicherheit des Betroffenen ist, so steigert die DNA die Produktion von Sensoren, die durch stressbedingte Botenstoffe wie Adrenalin geöffnet werden. Im Umkehrschluss heißt das, dass die Produktion dieser Sensoren auch wieder reduziert werden kann, wenn die entsprechende Nachfrage sinkt. Hierauf kann der Betroffene aktiv Einfluss nehmen, z.B. durch stressreduzierende Maßnahmen wie autogenes Training, Meditation oder Imagination.

Im Falle einer akuten Bedrohung werden Signale höchster Dringlichkeit z.B. von der Peripherie zum Rückenmark gesendet und von dort ans Gehirn weitergeleitet. Dieser Vorgang wird als Nozizeption (lat. nocere = schaden) bezeichnet. Dabei setzen spezialisierte sensorische Rezeptoren (Nozizeptoren) das Gehirn über drohende Gewebeschädigungen in Kenntnis. Die Aktivierung dieser Schmerzrezeptoren wird durch bestimmte Stoffe, sogenannte Schmerzmediatoren gesteuert. Nozizeptive Aktivitäten sind allerdings keine Voraussetzung, um Schmerzen zu empfinden. Wie bereits erwähnt, können vor allem chronische Schmerzen auch wahrgenommen werden, wenn keine Gewebeschädigung vorliegt. Nozizeption ist demnach zwar der häufigste, nicht aber der einzige Vorbote von Schmerzen. Mitunter aktivieren auch bestimmte (negative) Gedanken wie antizipatorische Ängste Alarmsignale direkt im Gehirn, ohne dass eine Nozizeption ausgelöst worden wäre. Hier kommt das Schmerzgedächtnis ins Spiel (siehe unten).

Neuronen sind elektrisch erregbar. Jedes Mal, wenn sich ein Sensor öffnet, und positiv geladene Teilchen einströmen, wird das Neuron etwas mehr erregt. Wenn sich noch weitere Sensoren öffnen, und die Erregung einen kritischen Punkt erreicht hat, man spricht hier von der „Alles-oder-nichts-Schwelle“, kommt es zu einer kurzzeitigen elektrischen Welle, die das Neuron durchströmt. Diese wird Aktionspotenzial genannt. Über diese Aktionspotenziale vermitteln Nerven ihre Botschaften. Ein Aktionspotenzial entspricht einer einzelnen Nachricht. Die entsprechende Botschaft, die über einen Nerv zum Rückenmark geleitet wird, lautet zunächst lediglich: „Achtung, mögliche Gefahr!“, noch nicht Schmerz. Ob es sich tatsächlich um eine Gefahr für den Organismus handelt, die mit einem Schmerzsignal beantwortet wird, entscheiden die entsprechenden Strukturen im Gehirn.

Kommt die „Schadensmeldung“ im Rückenmark an, löst sie im Spalt (Synapse) zwischen dem Ende des ersten Neurons und den benachbarten Neuronen (die zum Gehirn führen) die Ausschüttung chemischer Stoffe aus. Hat das Erregungsniveau des zweiten Neurons einen kritischen Wert erreicht (s.o.), wird ein Aktionspotenzial ausgelöst, und das zweite Neuron leitet die Nachricht weiter zum Gehirn, wo sie entschlüsselt, bewertet und beantwortet wird.

Dem Gehirn kommt dabei die Funktion der zentralen, dem Rückenmark lediglich die der regionalen Kontrollstelle zu, d.h. treffen zwei Nervenbahnen aufeinander: eine aufsteigende Schmerzbotschaft vom Rückenmark und eine absteigende Handlungsanweisung vom Gehirn, so kann letztere die aufsteigende Bahn außer Gefecht setzen, indem sie die Ausschüttung von Endorphinen (körpereigene Opioide) veranlasst und damit die Menge ankommender Alarmsignale reduziert, was zur Verringerung der Schmerzwahrnehmung führt. Hier setzt die Schmerztherapie an.

Bei der Reaktion auf eingehende Botschaften bedient sich das Gehirn diverser Systeme, um dem Organismus bei der Bewältigung akuter Schwierigkeiten zu helfen. Dazu zählen das sympathische und das parasympathische Nervensystem, das motorische System, das Endokrinum, das Schmerzproduktions- und das Immunsystem.

Die Gehirnregion, die als erste von der potenziellen Bedrohung in der Peripherie erfährt, ist der Thalamus. Er befindet sich im Zwischenhirn und besteht hauptsächlich aus grauer Substanz mit hoher Neuronendichte, die wiederum in rund 200 Kerngebiete (Thalamuskerne) unterteilt ist. Sämtliche relevanten Informationen, z.B. aus der Umwelt, gelangen über aufsteigende Nervenbahnen zu den Thalamuskernen. Dort werden sie gesammelt, miteinander verschaltet und entsprechend verarbeitet, bevor sie über Projektionsbahnen zur Großhirnrinde (Cortex) weitergeleitet werden, wo sie in bewusste Empfindungen umgewandelt werden. Um das Bewusstsein vor einer Reizüberflutung zu bewahren, wirkt der Thalamus wie ein Filter, weshalb er auch „Tor des Bewusstseins“ genannt wird. Hier entscheidet sich, welche Informationen ins Bewusstsein gelangen und welche nicht.

Der Thalamus ist u.a. zuständig für die Schmerzwahrnehmung. Zusammen mit Hippocampus, Corpus amygdaloideum (Mandelkern) und Teilen des Hypothalamus gehört er zum limbischen System, einer funktionellen Einheit, die sich aus Teilen des Groß-, Zwischen- und Mittelhirns zusammensetzt. Hier ist die Wiege der Gefühle und der emotionalen Reaktionen. In dieser Hirnregion findet die emotionale Bewertung des Schmerzes statt, z.B. die Angst vor dem Schmerz. Das weniger hoch entwickelte Stammhirn dagegen ist für die Steuerung lebenswichtiger Basisfunktionen wie Herzschlag, Blutdruck, Atmung und bestimmte essenzielle Reflexe zuständig wie das Wegziehen der Hand von der heißen Herdplatte.
Der Hypothalamus befindet sich unterhalb des Thalamus, er bildet den untersten Abschnitt des Zwischenhirns und ist an der Steuerung zahlreicher physischer und psychischer Vorgänge beteiligt. Wird dem Hypothalamus eine ernst zu nehmende Bedrohung gemeldet, so wird die Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinden-Achse aktiviert, ein körpereigener Schutzmechanismus, der eine Kaskade chemischer Reaktionen auslöst, ähnlich dem Dominoeffekt. Zunächst setzt der Hypothalamus ein Hormon mit der Bezeichnung Corticotrophin-Releasing-Factor (CRF) frei, das zur Hypophyse (Hirnanhangdrüse) transportiert wird. Dort wird das Adrenocorticotrope Hormon (ACTH) ausgeschüttet und über die Blutbahn zu den Nebennieren befördert, was wiederum dazu führt, dass die Stresshormone Cortisol und Adrenalin freigesetzt werden. Die beiden Hormone sorgen dafür, dass der Organismus innerhalb kürzester Zeit in die Lage versetzt wird, sämtliche Energiereserven zu mobilisieren, um der gemeldeten Gefahr adäquat begegnen zu können. Atmung und Herzschlag werden beschleunigt, die Blutgefäße im Verdauungstrakt ziehen sich zusammen, sodass mehr Blut in die Arm- und Beinmuskulatur gepumpt werden kann, und das Immunsystem arbeitet weniger effektiv. All diese Vorgänge dienen dazu, im Falle einer akuten Gefährdung möglichst schnell reagieren zu können. Normalerweise folgt auf einen vorübergehenden Zustand höchster Anspannung eine längere Phase der Entspannung. Leidet ein Mensch unter chronischen Schmerzen, erfolgt dagegen keine Entwarnung: Der akute Stress wird zum Dauerstress, was Körper und Psyche gleichermaßen beeinträchtigt. So schwächt lang anhaltender negativer Stress das Immunsystem, belastet das Herz-Kreislauf-System, zerstört Gedächtniszellen, trägt zur Bildung von gesundheitsschädlichem Bauchfett bei, führt zu Schlafstörungen und begünstigt die Entstehung chronischer Krankheiten wie Krebs, Depressionen, Diabetes mellitus, rheumatoide Arthritis und Demenz, um nur einige zu nennen. (2)

Zu den Stoffen, die der Organismus im Falle einer akuten Bedrohung ausschüttet, gehören auch körpereigene Opioide, die Endorphine. Diese wirken nicht nur schmerzlindernd, sondern sie regen auch die Ausschüttung von Dopamin an, einem Neurotransmitter mit euphorisierender Wirkung, was dazu führt, dass Schmerzen oft erst mit Verzögerung wahrgenommen werden.

Das Schmerzgedächtnis

Um schneller und effektiver auf eine potenzielle Bedrohung reagieren zu können, speichert das Gehirn schmerzhafte Erfahrungen aus der Vergangenheit ab. Wenn sich eine solche Erfahrung wiederholt, erinnert sich das Gehirn augenblicklich an das frühere schmerzhafte Erlebnis und stuft die neuerliche Bedrohung als schwerwiegender ein. Die Schmerzschwelle wird herabgesetzt mit dem Resultat verstärkter Schmerzwahrnehmung. Es findet eine Sensibilisierung bezüglich dieses potenziellen Schmerztriggers statt. In der Konsequenz verbindet der Betroffene sämtliche Situationen, in denen der Schmerz jemals aufgetreten ist, unwillkürlich mit dem Schmerzerlebnis, was zu einer negativen Erwartungshaltung führt, die ohne nozizeptive Aktivitäten zum Auftreten von Schmerzen führen kann. Man spricht hier von Antizipation oder von antizipatorischen Ängsten. Allein der Gedanke an das Auftreten des gefürchteten Schmerzes kann ausreichen, um ihn auszulösen. Man könnte hier von einem Nocebo-Effekt sprechen. Im Gegensatz zum Placebo-Effekt wirkt sich die innere Überzeugung, dass der Schmerz unweigerlich wiederkommen wird, entsprechend negativ auf den Heilungsprozess aus: Der Schmerz wird geradezu heraufbeschworen. Negative Gedanken fungieren in diesem Fall als Nervenimpulse. Auch das ist ein wichtiger Anhaltspunkt für eine ganzheitliche Schmerztherapie.

Vom akuten zum chronischen Schmerz

Während akute Schmerzen ein Symptom mit Warn- und/oder Schutzfunktion darstellen, haben anhaltende oder periodisch wiederkehrende Schmerzen den Stellenwert einer chronischen Krankheit. Sie beeinträchtigen den Alltag der Betroffenen mitunter massiv und wirken sich in vielen Fällen negativ auf die Lebensqualität aus. Typische Beispiele chronischer Schmerzen sind Rücken-, Nerven-, Kopf-, Arthrose-, Tumor- und Phantomschmerzen. Es kann sich dabei um einen Dauerschmerz oder um rezidivierende Schmerzen handeln. Chronische Schmerzen können nozizeptiven Charakter haben, d.h. es liegt eine Gewebeschädigung vor wie beim Tumor- oder Arthroseschmerz, häufig jedoch verspürt der Patient wiederkehrende oder persistierende Schmerzen ohne Verletzung oder Gewebeschädigung: Der Schmerz führt ein Eigenleben und hat seine Signalfunktion zumindest auf körperlicher Ebene verloren. Aus psychologischer Sicht wird angenommen, dass der chronische Schmerz eine Stellvertreterfunktion für ein seelisches Leiden einnimmt, welches der Betroffene verdrängt und/oder tief in seinem Inneren vergraben hat, da es zu schmerzhaft für ihn wäre, es erneut ins Bewusstsein zu holen. In diesem Fall signalisiert der Schmerz, dass es ein verborgenes, seelisches Problem gibt, das aus dem Unterbewussten ins Bewusstsein geholt und bearbeitet werden sollte. Erst dann kann der körperliche Schmerz zur Ruhe kommen und sich für immer verabschieden. Egal, ob akut oder chronisch, Schmerzen haben immer eine Signalfunktion: Sie fordern den Betroffenen zum Handeln auf.

Der Chronifizierung akuter Schmerzen ohne Nozizeption liegt in der Regel eine Funktionsveränderung des körpereigenen Alarmsystems zugrunde. Es reagiert überempfindlich und unverhältnismäßig – „schießt mit Kanonen auf Spatzen“. Ein ähnliches Phänomen stellen Autoimmunerkrankungen dar: Auch hier beantwortet der Organismus einen vergleichsweise harmlosen Reiz wie Tierhaare oder Pollen mit einer Kaskade überschießender Abwehrreaktionen. Auch in diesem Fall stuft das Gehirn eine Situation als wesentlich bedrohlicher ein, als sie tatsächlich ist. Ein an sich lebensrettender Mechanismus, den Organismus vor potenziellen Gefahren zu schützen, wird in beiden Fällen ad absurdum geführt. Sowohl bei der Chronifizierung von Schmerzen als auch bei Autoimmunkrankheiten richtet der Körper seine Waffen gegen sich selbst.

Besteht eine erhöhte Alarmbereitschaft, so passt sich das Nervensystem innerhalb kürzester Zeit den veränderten Bedingungen an, das heißt, die Neuronen erhöhen kurzfristig ihre Sensibilität für ankommende chemische Stoffe, wodurch sich die Arbeitsweise der Sensoren verändert: Jedes Mal, wenn sie sich öffnen, bleiben sie etwas länger geöffnet, was zur Folge hat, dass mehr Ionen einströmen können: Das Alarmsystem reagiert noch effektiver. Eine wahre Flut sensibilitätsverstärkender Chemikalien überschwemmt die Synapsen.

Von Hyperalgesie spricht man, wenn Reize, die vorher nur leichte Beschwerden ausgelöst haben, nun zu starken Schmerzen führen. Als Allodynie bezeichnet man das Phänomen, wenn Reize, die bislang keine Schmerzen zur Folge hatten, nun plötzlich schmerzhafte Reaktionen nach sich ziehen. Beide Reaktionen deuten auf eine erhöhte Empfindlichkeit des Nervensystems hin. Im Endeffekt kann bereits eine leichte Berührung der Haut oder eine geringfügige Temperaturveränderung ausreichen, um dem Gehirn zu suggerieren, dass hier eine dramatische Gefahrensituation vorliegt, die mit entsprechenden Schmerzen beantwortet werden muss.

Eine erhöhte Alarmbereitschaft des Nervensystems ist fast immer das Hauptmerkmal bei chronischen Schmerzen. Stressreduzierende Maßnahmen können hier sehr wirksam sein (siehe oben).

Ein weiteres Charakteristikum chronischer Schmerzen, vor allem dann, wenn ihnen keine Gewebeschädigung zu Grunde liegt, ist ihre Unberechenbarkeit. Der Grund dafür ist, dass sie in der Regel nicht monokausal sind, sondern durch viele unterschiedliche Faktoren hervorgerufen werden. Diese Unberechenbarkeit mit zum Teil längeren schmerzfreien Intervallen ist ein deutlicher Hinweis auf ein sensibilisiertes Alarmsystem. Eine mögliche Ursache können emotional traumatisierende Ereignisse in der Vergangenheit sein, beispielsweise in der frühen Kindheit, die bis in die Gegenwart hineinwirken, dem Betroffenen aber nicht bewusst sind (siehe oben).

Das Fatale chronischer Schmerzen besteht darin, dass der Organismus versucht, das bewährte Muster akuter Schmerzbewältigung auch bei anhaltenden Schmerzen beizubehalten, d.h. Stressreaktion mit Beschleunigung zahlreicher körperlicher Funktionen und die Suche nach einfachen, schnellen und kurzfristigen Lösungen. Gelingt dies nicht, führt der daraus resultierende Dauerstress zu anhaltender Erschöpfung. Das Erfolgserlebnis bleibt aus, der Schmerz hält an. Die Alarmbereitschaft des Schmerz-Systems erhöht sich, das Schmerzgedächtnis bildet sich aus. Der eigene Handlungsspielraum wird immer kleiner.

Im Falle akuter Schmerzen ist diese Reaktion sinnvoll, mitunter auch lebensrettend. Sobald die Bedrohung vorüber ist, lässt der Stress nach und der Parasympathikus sorgt für Entspannung. Das Problem chronischer Schmerzen ist, dass der sympathikotone Zustand anhält: Es erfolgt keine Entspannung. Hinzu kommt die häufige Kopplung von Schmerz und Angst vor dem Schmerz, wodurch der Stress für Körper und Seele chronisch wird. Auch wenn der Schmerz gerade nicht wahrgenommen wird, ist dennoch die Angst vor seinem neuerlichen Auftreten spürbar. Der Patient empfindet entweder Schmerz oder Angst vor dem Schmerz.

Individuelles Schmerzerleben und Homöopathie

Bezüglich der Schmerzempfindung unterscheidet die Schulmedizin zwei grundsätzliche Qualitäten: die affektive und die sensorische. Die affektive Schmerzqualität drückt das subjektive Erleben des Schmerzes aus. Sie besagt, wie der Einzelne seine Schmerzen wahrnimmt, wie tief seine Verzweiflung dabei ist. So werden Schmerzen beispielsweise als quälend, marternd, lähmend oder zerstörerisch bezeichnet. Bei der sensorischen Schmerzqualität geht es um die Art des Schmerzes. Hier beschreibt der Betroffene, wie sich der Schmerz an sich anfühlt, z.B. stechend, drückend, brennend, klopfend, pulsierend, bohrend, dumpf, hell oder ziehend.

An dieser Stelle möchte ich den Bogen zur Klassischen Homöopathie und der Empfindungsmethode Rajan Sankarans spannen. Sowohl in der Beschreibung der affektiven als auch der sensorischen Schmerzqualität drückt sich das individuelle Erleben des Schmerzes aus. Spricht ein Patient beispielsweise davon, dass er sich von seinem Schmerz gequält und gepeinigt fühlt und nimmt er dabei die Opferrolle ein, während der Schmerz als Feind oder Aggressor wahrgenommen wird, so haben wir einen deutlichen Hinweis auf das Tierreich. Vermutlich braucht der Betroffene ein tierisches Arzneimittel. Dazu das Beispiel einer 50-jährigen Fibromyalgie-Patientin mit Chronic-Fatique-Syndrom (CFS), die ihren Schmerz mit folgenden Worten beschreibt: „Mein Schmerz ist ein Terrorist, er wählt strategische Ziele, verletzt mich mit Guerilla-Taktiken, völlig gewissenlos, eine fremde Macht, im Tarnanzug unterwegs, die hier und dort zuschlägt und die mir Angst macht. Mein Schmerz repräsentiert die furchtbare Achse des Bösen, und meine Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinden-Achse lebt in Angst und Schrecken. Er greift an, zieht sich zurück, greift wieder an – ein Söldner.“ (3) Hier sehen wir ganz deutlich, wie die Patientin ihren Schmerz personalisiert, zum heimtückischen Feind erklärt, der sie immer wieder völlig unerwartet attackiert. Die Opfer-Täter-Thematik tierischer Arzneimittel tritt bei diesem Beispiel deutlich zu Tage. Man könnte an ein Schlangenmittel aus der Familie der Crotalinae denken. Diese Spezies greift ohne Vorwarnung und äußerst effektiv und vernichtend aus dem Hinterhalt an und zieht sich anschließend wieder ins sichere Versteck zurück.

Für einen mineralischen Menschen hingegen würde der Schmerz eher ein Strukturproblem darstellen. Es ginge um das Bewusstsein mangelnder Fähigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit dem Schmerz. Der Betroffene hätte das tief empfundene Gefühl, dem Schmerz nichts entgegensetzen zu können, nicht zu wissen, wie er dem Schmerz effektiv begegnen soll. Das größte Problem wäre die Empfindung, nichts gegen den Schmerz in der Hand zu haben, nichts unternehmen zu können, macht- und hilflos zu sein. Der eigene Mangel stünde hier im Vordergrund.

Bei einem Patienten, dessen Heilmittel pflanzlichen Ursprungs ist, geht es mehr um die sensorische Schmerzqualität. Hier wird der Schmerz nicht als Aggressor empfunden, er selbst sieht sich nicht als Opfer, und es geht auch nicht um ein Strukturproblem, sondern vielmehr um eine grundsätzliche Empfindlichkeit und Empfänglichkeit auf das, was von außen auf ihn einwirkt. Hier spielt oft die Wahrnehmung der sensorischen Schmerzqualität eine wichtige Rolle: Bei den Ranunculaceen (Hahnenfußgewächse) beispielsweise werden die Schmerzen als scharf, stechend, wie ein Dolchstoß oder wie elektrische Schläge beschrieben. Die Schmerzempfindung der Rosaceen (Rosengewächse) hingegen hat eine ganz andere Qualität, sie wird mit den Worten „gequetscht“, „herausgedrückt“, „(heraus)gepresst“ und „herausschießend“ wiedergegeben. Die Hamameliden (Zaubernussähnliche) wiederum werden in Verbindung gebracht mit der Empfindung „komprimiert“, „zusammengedrückt“ und „schwer“. Bei den Pilzen (Fungi) haben wir es mit Patienten zu tun, die ihre Schmerzen als fressend, nagend, erodierend, zersetzend, penetrierend, durchdringend und geschwürig bezeichnen. Zur Rechtfertigung einer Pflanzenverschreibung muss die entsprechende Empfindung auch auf anderen Ebenen geäußert werden, nicht nur beim Schmerz. Häufig sprechen Pflanzenpatienten während der Anamnese in Gegensatzpaaren. Da wo Schwere ist, findet man auch Leichtigkeit. Dort, wo es um die Empfindung „zusammengezogen“ oder „kontrahiert“ geht, tauchen auch die Begriffe „Ausdehnung“, „größer werden“ oder „unbegrenzt“ auf.

Es ist also durchaus möglich und sinnvoll, von der empfundenen Schmerzqualität auf das passende Heilmittel zu schließen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Patient dazu in der Lage ist, seine individuelle Wahrnehmung in Worte zu fassen. Eine Alternative wäre es, ihn zu ermuntern, ein Bild zu malen, wenn ihm diese Ausdrucksform leichter fällt.

Sankarans Miasmen und die Tiefe des Erlebens

Im Ausdruck der affektiven Schmerzqualität wird auch deutlich als wie schwerwiegend der Betroffene seinen Schmerz empfindet, sodass wir einen Bezug zu den Miasmen Sankarans herstellen können. Rajan Sankaran unterscheidet zehn verschiedene Miasmen (Akut, Typhus, Psora, Ringworm, Malaria, Sykose, Krebs, Tuberkulose, Lepra und Syphilis), die darüber Auskunft geben, als wie intensiv, tief, hoffnungslos und verzweifelt der Patient seine Situation erlebt. Bei den Miasmen, die links von der Sykose angeordnet sind (Akut, Typhus, Psora, Ringworm und Malaria) wird die Lage als hoffnungsvoller und weniger verzweifelt empfunden als bei den Miasmen auf der rechten Seite (Krebs, Tuberkulose, Lepra und Syphilis). Die Sykose liegt genau in der Mitte, hier besteht zwar wenig Hoffnung auf Genesung, es droht jedoch auch keine Lebensgefahr.

Das akute Miasma

Braucht der Patient ein Mittel aus dem Akut-Miasma, so empfindet er seine Schmerzen als plötzliche, intensive Bedrohung. Es geht um Leben oder Tod. Die Schmerzen kommen aus heiterem Himmel, sind in der Regel von kurzer Dauer und enden ebenso plötzlich wie sie erschienen sind. Heftige akute Schmerzen wären ein typisches Beispiel für dieses Miasma. Aber auch chronische oder rezidivierende Schmerzen können im Sinne des Akut-Miasmas wahrgenommen werden, z.B. plötzlich einschießende Nervenschmerzen ohne Vorankündigung. Der Betroffene reagiert mit Panik oder Schock, gefolgt von Fluchtgedanken oder Starre.

Arzneimittel aus dem Akuten Miasma: Aconitum, Belladonna, Campher, Morphinum, Stramonium, Veratrum album

Das psorische Miasma

Ein psorischer Patient geht mit Zuversicht und Optimismus an seine Schmerzen heran. Sie beeinträchtigen ihn kaum in seinem täglichen Leben, und er hat keinen Zweifel daran, dass sie wieder vergehen werden, bzw. dass er damit adäquat umgehen kann. Er ist der festen Überzeugung, dass er es schaffen wird, des Problems mit einiger Anstrengung Herr zu werden. Die Schmerzintensität ist eher gering. Seine Reaktion auf den Schmerz ist ein ständiges Bemühen um Linderung bzw. Genesung.

Arzneimittel aus dem Psorischen Miasma: Calcium carbonicum, Graphites, Lycopodium, Kalium carbonicum, Sulphur

Das Typhus-Miasma

Beim Typhus-Miasma handelt es sich um eine Kombination aus akutem und psorischem Miasma. Bezogen auf die Schmerzwahrnehmung heißt das: Der Betroffene erlebt seine Schmerzen als akute Krise mit einem Anfang und einem Ende. Die Schmerzen setzen plötzlich und intensiv ein, sie sind unberechenbar, erzeugen die typischen Akut-Reaktionen wie Panik und Schock mit Starre oder Fluchtgedanken. Der Patient hat das Verlangen, aktiv gegen den Schmerz vorzugehen, was eine kurze, aber heftige Anstrengung erfordert, doch dann verschwindet der Schmerz wieder. Es handelt sich um periodisch wiederkehrende Schmerzattacken mit komplett schmerzfreien Intervallen. Die Schmerzintensität ist zwar heftig, die Haltung zum Schmerz aber hoffnungsvoll, fast kindlich naiv. Ein typisches Beispiel für ein derartiges Schmerzgeschehen wäre eine zyklusabhängige Migräne, die lediglich einmal im Monat vor der Periode auftritt, die Patientin aber während der übrigen Zeit in keiner Weise beeinträchtigt. Das Empfinden im Typhus-Miasma lautet: „Wenn ich es nur schaffe, durch diese Krise hindurchzukommen, habe ich es geschafft und kann mich ausruhen.“ (4)

Arzneimittel aus dem Typhus-Miasma: Bryonia, Carbo vegetabilis, Hyoscyamus, Nux vomica, Rhus toxicodendron

Das sykotische Miasma

Der sykotische Patient hat eine resignative Haltung seinem Schmerz gegenüber. Er hat sich damit abgefunden, dass er den Schmerz wohl nicht mehr loswerden wird und richtet sein Leben entsprechend ein. Seine innere Einstellung lautet: Ich kann es nicht ändern, also muss ich es wohl oder übel akzeptieren und fortan damit leben. Dabei vermeidet er geflissentlich alle Situationen, die den Schmerz auslösen oder verstärken könnten, was seinen Handlungsspielraum immer mehr einschränkt – ein typisches Reaktionsmuster vieler Patienten mit chronischen Schmerzen. Charakteristisch für das sykotische Miasma sind antizipatorische Ängste. Der Patient ist fixiert auf seinen Schmerz: Angst und Vermeidungshaltung stehen im Mittelpunkt.

Arzneimittel aus dem Sykotischen Miasma: Calcium bromatum, Causticum, Gelsemium, Lac felinum, Medorrhinum, Pulsatilla, Silicea, Thuja

Das Ringworm-Miasma

Beim Ringworm-Miasma haben wir es mit einer Kombination aus psorischem und sykotischem Miasma zu tun. Die Schmerzintensität ist nicht besonders groß, und es herrscht keine Hoffnungslosigkeit oder gar Verzweiflung vor. Typisch ist der Wechsel aus optimistischer und resignativer Haltung: Einmal ist sich der Betroffene sicher, dass er den Schmerz überwinden wird und er unternimmt gezielte Anstrengungen in diese Richtung, dann aber gibt er resigniert auf und fügt sich in sein vermeintliches Schicksal. Der sykotische Teil akzeptiert die Schmerzen, der psorische lehnt sich dagegen auf und versucht sie zu bewältigen. Im Gegensatz zum akuten Miasma geht es hier nicht um Leben oder Tod, der Schmerz wird eher als unangenehm und lästig, nicht aber als lebensbedrohlich empfunden. Der typische Ringworm-Patient fängt immer wieder eine neue Therapie an, um sie kurze Zeit später wieder zu beenden, weil er an ihrem Erfolg zweifelt, doch er gibt nie völlig auf.

Arzneimittel aus dem Ringworm-Miasma: Calcium silicatum, Calcium sulphuricum, Kalium sulphuricum, Lac humanum, Sarsaparilla

Das Malaria-Miasma

Das Malaria-Miasma vereint akute und sykotische Anteile. Der Patient fühlt sich von seinem Schmerz attackiert, angegriffen und gequält, was ihn in seinem täglichen Leben stark einschränkt und behindert. Er hat das Gefühl, in seinem „Schmerzkarussell“ festzustecken, sieht keinen Ausweg aus dem Dilemma. Er fühlt sich vom Unglück verfolgt, jammert und lamentiert. Typisch für das Malaria-Miasma sind periodisch wiederkehrende heftige Schmerzattacken mit unberechenbarem Verlauf wie Neuralgien, Migräne, Gelenkbeschwerden, anfallsartige Magenschmerzen etc. Die Schmerzen setzen unvermittelt und mit großer Intensität ein, versetzen den Betroffenen in Panik, halten für eine gewisse Zeit an und ziehen sich dann wieder zurück. Im Gegensatz zum Typhus-Miasma empfindet der Betroffene die Zeitspanne zwischen den Schmerzattacken allerdings nicht als Entspannung. Der sykotische Anteil sorgt dafür, dass die schmerzfreie Zeit geprägt ist von antizipatorischen Ängsten und einer zwanghaften Vermeidungshaltung: Alles, was eine neuerliche Attacke antriggern könnte, wird tunlichst unterlassen. Der Schmerz hat den „Malaria“-Patienten fest im Griff.

Arzneimittel aus dem Malaria-Miasma: Chelidonium, China, Colocynthis, Dioscorea, Natrium muriaticum, Spigelia

Das Krebs-Miasma

Schmerzpatienten, die ein Arzneimittel aus dem Krebs-Miasma benötigen, haben das starke Verlangen, alles unter Kontrolle haben zu müssen: ihr Leben und den Schmerz. Dabei überfordern sie sich permanent und gehen bis an ihre Belastungsgrenze, aus Angst, das Chaos würde sich ihrer bemächtigen. Mit aller Kraft wehren sie sich dagegen, dass der Schmerz die Oberhand gewinnt. Sie empfinden ihre Schmerzen als destruktiv, ihre Lage als verzweifelt und nahezu hoffnungslos. Meist handelt sich bei diesen Menschen um Perfektionisten, die nichts dem Zufall überlassen können.

Arzneimittel aus dem Krebs-Miasma: Arsenicum, Carcinosinum, Ignatia, Nitricum acidum, Opium, Staphisagria

Das tuberkulinische Miasma

Das tuberkulinische Schmerzempfinden ist geprägt von Zeitdruck und Hektik. In blindem Aktionismus versucht der Betroffene alles Mögliche, um den Schmerz so schnell wie möglich loszuwerden. Wie ein Getriebener kämpft er unermüdlich gegen „Windmühlen“. Die Schmerzintensität ist groß, ebenso die Verzweiflung. Der Patient fühlt sich stark unter Druck gesetzt, hat das Gefühl, dass ihm kaum noch Zeit bleibt, um den Schmerz zu besiegen. Er ist ausgebrannt, hat kaum noch Energie.

Arzneimittel aus dem tuberkulinischen Miasma: Apis, Aranea diadema, Iodium, Mygale, Phosphor, Tarentula, Tuberkulinum

Das Lepra-Miasma

Im Lepra-Miasma sind Schmerzintensität und Verzweiflung sehr stark ausgeprägt. Die Betroffenen haben kaum Hoffnung auf Genesung oder Schmerzlinderung. Sie leben in ständiger Sehnsucht nach Veränderung ihres qualvollen Zustandes, ohne an eine Lösung ihres Problems zu Glauben. Die Folge sind mitunter Selbstmordgedanken. Hinzu kommt, dass sich diese Patienten isoliert und ausgegrenzt fühlen. Sie geben sich selbst die Schuld an ihrem Zustand und hassen sich dafür. Schlussendlich geben sie sich selbst auf. Der chronische Schmerz treibt sie in die Depression.

Arzneimittel aus dem Lepra-Miasma: Cicuta virosa, Curare, Hura brasiliensis, Lac defloratum, Mandragora, Secale cornutum

Das syphilitische Miasma

Menschen, deren Heilmittel aus dem syphilitischen Miasma stammt, empfinden ihren Schmerz als so vernichtend, dass sie sich ein weiteres Leben mit diesem Schmerz nicht vorstellen wollen oder können. Sie leiden extrem unter ihren Schmerzen, haben keinerlei Hoffnung auf Hilfe oder Genesung, sind vollkommen verzweifelt, bereit ihr Leben zu beenden. Doch bevor sie das tun, unternehmen sie einen letzten verzweifelten Versuch, das Ruder noch einmal herumzureißen, sie sind der „Kapitän eines sinkenden Schiffes“, halten die Stellung, obwohl es keine Rettung mehr gibt.

Arzneimittel aus dem syphilitischen Miasma: Aurum, Cenchris contortrix, Lachesis, Mercurius, Plumbum, Plutonium, Syphilinum

Die beiden Autoren David S. Butler und G. Lorimer Moseley (5)unterscheiden zwei Schmerztypen, die auch in Hinblick auf die Miasmenzuordnung interessant sind. Typ 1 entspricht dem sykotischen Miasma: Er neigt zur Unterforderung, vermeidet alles, was den Schmerz auslösen könnte und geht in die Passivität, ist pessimistisch und resignativ. Die Toleranzschwelle wird dabei immer niedriger. Typ 2 tendiert dazu, die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten, selbst wenn es äußerst schmerzhaft ist. Dieser Typ hat einen Hang zur Überforderung und ignoriert die Signale seines Körpers. Die Betroffenen sind oft Leistungsmenschen und Perfektionisten. Hier könnte man an das Krebs-Miasma denken: Sich permanent überfordern, bis an die Grenzen gehen und alles im Griff haben wollen.

Fazit

Neben Lokalisation und Modalitäten kann die individuelle Schmerzempfindung entscheidend dazu beitragen, das passende Heilmittel für den Patienten zu finden. Gerade in der persönlichen Wahrnehmung und Empfindung von Schmerzen sowie in der Reaktion darauf, finden wir das Besondere und Individuelle, dass uns die Arzneimittel voneinander unterscheiden lässt. Optimismus und Zuversicht auf der einen Seite sowie Hoffnungslosigkeit und totale Verzweiflung auf der anderen führen uns zum Miasma, was wiederum ein wichtiger Schritt zur Ermittlung des Simillimums ist. Letztlich muss uns aber klar sein, dass das Arzneimittel, selbst wenn es gut gewählt ist, lediglich den Anstoß zur Heilung gibt. Wir dürfen dem Patienten die Verantwortung für seine Genesung nicht aus der Hand nehmen. Er darf sich nicht abhängig von unserem Geschick als Therapeuten wähnen, sondern muss stets das Gefühl haben, sein Leben selbst gestalten und aktiv gegen den Schmerz vorgehen zu können. Der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer sprach in diesem Zusammenhang von der „Freude des Gelingens“ (6).

Anmerkungen:

(1) Wiedemann, J.: Gesichter des Schmerzes. Vortrag auf der 24. Arbeitstagung des Wildunger Arbeitskreises für Psychotherapie „Gesichter der Menschlichkeit“. S. 1
(2) Gardner-Nix, J. / Costin-Hall, L.: Der achtsame Weg durch den Schmerz. Arbor Verlag. Freiburg i. Br. 2012. S. 95
(3) Gardner-Nix J. / Costin-Hall, L.: Der achtsame Weg durch den Schmerz. Arbor Verlag. Freiburg i. Br. 2012. S. 213
(4) Sankaran, R.: Intensivkurs Homöopathie. Narayana Verlag. Kandern. 2015. S. 503
(5) Butler, D.S. / Moseley, G. L.: Schmerzen verstehen. Springer Medizin Verlag. Heidelberg. S. 98
(6) Gadamer, H-G.: Schmerz. Einschätzungen aus medizinischer, philosophischer und therapeutischer Sicht. Universitätsverlag Winter. Heidelberg. 2010, S. 29